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„Früher bewarben sich die Mitarbeiter bei den Pflegediensten – heute bewerben sich die Pflegedienste bei den Mitarbeitern!”

Angelika Busse ist geschäftsführende Gesellschafterin eines ambulanten Pflegedienstes mit 90 Mitarbeitern, 450 Pflegepatienten und über 255 Pflegegutachtenpatienten nach §37,3 SGBXi. Das private Unternehmen mit Sitz im ostwestfälischen Porta Westfalica ist zudem Mitglied im Netzwerk ambulanter Pflegedienste im Kreis Minden-Lübbecke. Pflegeaktuell sprach mit Angelika Busse über die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Pflegedienste.

Sie sind seit 1993 in der ambulanten Pflege tätig und seit dem Jahr 2000 mit einem Pflegedienst selbständig. Was hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert?

Im Prinzip alles. 1993 gab es noch die Gemeindeschwestern in Dörfern und Stadtteilen, die erst 1995 mit der Einführung der Pflegeversicherung durch Norbert Blüm mehr und mehr ihre Tätigkeit einstellten. Das Ziel der Pflegeversicherung war ambulant vor stationär zu stellen. Die Gründung von ambulanten Pflegediensten sollte die häusliche Pflege sicherstellen und eine frühzeitige Heimunterbringung verhindern. In den neunziger Jahren war der ambulante Pflegedienst überwiegend mit der klassischen Pflege beschäftigt, dagegen liegen heute unsere Aufgaben zu 50 % im medizinischen Bereich.

Man könnte eigentlich sagen: Früher haben wir Pflegefachkräfte gefunden –  heute finden sie uns! Wichtig ist, dass ein Unternehmen einen guten Ruf als Arbeitgeber hat. Inserate mit Einstiegspramien bringen meiner Meinung nach nichts und erzeugen einen schlechten Ruf unter den Pflegekräften und in der gesamten Pflegebranche. Überlastete Pflegekräfte lassen sich nicht mehr alles gefallen, schauen kritisch hin und legen Wert auf eine gute Balance zwischen Geben und Nehmen. Jüngere Fachkräfte achten vor allem auf einen hohen Freizeitwert, das viel zitierte „Work-Life-Balance“. Das Finanzielle muss gut sein, aber ist nicht alles, denn die meisten Mitarbeiter in der ambulanten Pflege sind Frauen und Zweitverdiener mit ohnehin hohen steuerlichen Abzügen.

Wie gehen Sie das Thema Balance für Mitarbeiter an?

Zunächst einmal stellen wir fest, dass wir früher die Personalpolitik nebenbei mitgemacht haben und sie heute ein zentrales Thema in Pflegeunternehmen ist. Das nur einmal jährlich stattfindende Personalgespräch funktioniert schon lange nicht mehr. Vielmehr ist es wichtig, dass schon im Vorstellungsgespräch alle Bedenken geäußert werden. Nur so kann man Rahmenbedingungen für die Pflegekraft auch vertraglich festhalten. Das schafft Vertrauen und Sicherheit für die neue Mitarbeiterin und erhöht die Zufriedenheit und Bindung zum Unternehmen. Im Alltag muss man ein offenes Ohr für Probleme haben, die Mitarbeiterin muss ihre Anliegen offen vortragen können.

In der ambulanten Pflege sind die Mitarbeiterinnen meistens den gesamten Tag allein unterwegs. Wie erreichen Sie einen kommunikativen Austausch?

Die Arbeit in der ambulanten Pflege ist vor allem für Frauen nach der Elternzeit interessant, weil wir sehr flexible Arbeitszeitmodelle in Teilzeit anbieten und somit Beruf und familiäre Gegebenheiten gut in Einklang bringen können. Wir haben zum Beispiel eine Mitarbeiterin, deren Partner im Schichtdienst arbeitet. Wir planen ihren Dienst nach dem Dienstplan Ihres Mannes. In einem Krankenhaus ist da kaum möglich.

Wer entscheidet sich überhaupt für einen Beruf in der ambulanten Pflege?

Wer in der ambulanten Pflege arbeitet, möchte für den einzelnen Menschen etwas tun. Unsere Mitarbeiter können sich voll auf ihre Patienten konzentrieren und haben ein gewachsenes Verhältnis, ganz anders als im Krankenhaus, wo der Patient nur eine kurze Verweildauer hat und die medizinische Versorgung im Vordergrund steht. Natürlich herrscht bei uns wie überall auch oft Zeitdruck, aber man kann sich selbständig organisieren und planen und muss Entscheidungen für den Patienten treffen. Die Selbständigkeit gefällt vielen erfahrenen Pflegefachkräften, aber sie ist leider auch der Grund, warum junge Mitarbeiterinnen zunächst lieber im Krankenhaus oder Altenheimen arbeiten. Sie sind noch unsicher und haben Angst Entscheidungen zu treffen.

Die psychische Belastung ist sicherlich auch nicht zu unterschätzen.

Ältere Menschen bis zum Tod zu begleiten, gehört mit Empathie und professionellem Abstand zu unserem Berufsalltag. Und die meisten Patienten sind für die Hilfe dankbar und spiegeln das auch wieder. Diese Würdigung ist für Pflegekräfte sehr wichtig. Prinzipiell sind die Patienten und Situationen sehr unterschiedlich. Außenstehende denken oft, dass wir uns vorwiegend um ältere Menschen kümmern, aber 20 % unserer Pflegebedürftigen haben das Rentenalter noch nicht erreicht. Einige davon betreuen wir bereits seit sehr vielen Jahren, wir gehören praktisch zu deren Leben und das ist für beide Seiten ein gutes und vertrautes Gefühl. Aber es gibt auch immer wieder besondere Situationen: Wenn eine schwerkranke Mutter kleiner Kinder gepflegt werden muss, ist das eine emotionale Belastung, die nicht jeder aushalten kann. Wir wägen sehr genau ab, welche Mitarbeiterin dieser Aufgabe gewachsen ist und sprechen vorher ausführlich darüber.

Wie führen Sie Pflegebedürftige und Pflegekräfte zusammen und organisieren den Arbeitsalltag?

Unsere Pflegedienstleitungen erstellen zunächst eine Analyse und definieren klare Aufgaben für die betreuende Mitarbeiterin vor Ort. Wenn sich die Situation des Patienten verändert, sprechen wir darüber und passen die Aufgaben entsprechend an. Natürlich haben wir auch gelegentlich mit Starrsinn, Chaos oder aufkommender Verwahrlosung zu tun. Oft ist der Betroffene gefangen in seiner Situation, kann und will keine Veränderung zulassen. Wenn keine Angehörigen da sind, stellen wir einen Antrag auf Betreuung. Oft lässt sich dann die Situation für den Patienten mit einem Betreuer schnell verbessern und er erkennt selbst, wie gut die Veränderung für ihn ist.

Wir müssen heute bis zum 67. Lebensjahr arbeiten. Ist das für Menschen in Pflegeberufen überhaupt realistisch?

Da wir Teilzeitlösungen anbieten, ist die Belastung durch Schichtdienst, physische und psychische Faktoren zum Glück begrenzt. Die „Belastungsschallgrenze“, wie ich sie nenne, muss aber individuell geklärt werden. Wir haben auch Mitarbeiterinnen, die nach dem Renteneintrittsalter noch stundenweise in der Medikamentenstellung tätig sind oder noch einzelne Patienten betreuen oder Beratungsgespräche mit pflegenden Angehörigen führen. Die Frage, ob man Vollzeit bis zur Rente und darüber hinaus in der Pflege arbeiten kann, muss ich ganz klar mit „nein“ beantworten. Das halte ich sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Pflege für unrealistisch, weil die Anforderungen an den Beruf dafür zu hoch sind.

Die Herausforderungen zum Thema Pflege werden somit noch größer. Wie wird die Zukunft aussehen?

Die Pflege wird sich noch einmal völlig verändern. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge älter und pflegebedürftig werden und es immer weniger junge Menschen und damit weniger neue Pflegekräfte gibt, werden zwangsläufig neue Lösungen erforderlich sein. Wir werden meiner Meinung nach nicht darum herum kommen, uns stärker gegenseitig zu helfen und zu vernetzen. Nachbarschaftshilfe „Buurtzorg“ unter Leitung eines Pflegekoordinators ist in den Niederlanden bereits ein erfolgreiches Modell. Ob dieses Modell für Deutschland übertragbar ist – muss geprüft werden.

Wie können ambulante Pflegedienste politisch mitwirken?

Wir haben im Kreis Minden-Lübbecke 2005 ein Netzwerk für Pflegedienste gegründet. Dieser paritätisch besetzte Verein, der sich aus privaten Unternehmen und Einrichtungen der Wohlfahrtspflege zusammensetzt, tauscht sich regelmäßig aus und nutzt Synergieeffekte. Zudem besuchen wir Informationsveranstaltungen und nehmen an politischen Diskussionsrunden teil. Früher hatten wir Mitglieder auch Konkurrenzsituationen, heute stellen wir uns gemeinsam die Frage, wie wir gemeinsam und in der Zukunft die Pflegebedürftigen versorgen können. Wenn alle Verantwortlichen in der Politik und Pflege zusammenarbeiten, haben wir gute Chancen die richtigen Weichen für die Zukunft zu stellen.

Mehr Informationen zum Thema Buurtzorg – Nachbarschaftshilfe
www.springerpflege.de/buurtzorg-von-den-niederlanden-lernen